Gilberto Gil, Sohn des Gandhi

Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Musikern der Música Popular Brasileira (MPB). Er eröffnet am 11. Juli das diesjährige Live at Sunset-Festival in Zürich.

In die leicht verschleppte Perkussion im Keksdosensound scheppert eine E-Gitarre mit psychedelischem Hall. Dahinter das trippige „La-Laa“ eines Chörchens, und dann Gilberto Gil, der im Sprechgesang eine Prozession beschreibt: singende Frauen und betende Männer, die die höheren Mächte um ein besseres Leben anflehen. Doch, so fragt Gil in diesem Song „Procissão“ von 1968, kann Jesus den Bedürftigen im wüstenartigen Sertão wirklich helfen, wenn im Staat die Machthaber Gott spielen und sich einen Dreck um die Armen kümmern ?

„Procissão“ ist ein Paradebeispiel des frühen Tropicalismo. Aufgeweckte US- und Euro-Hippies staunten nicht schlecht, als sie damals zum ersten Mal solche Töne aus Brasilien vernahmen. Música Brasileira und Psychedelia? Waren die dort nicht auf Bossa Nova, Samba und Girls am Strand von Ipanema abonniert? Tatsächlich hätte die Bossa Nova wohl noch länger geboomt, wäre nicht 1964 die Militärdiktatur an die Macht gekommen. Liberale Tendenzen wurden bald darauf im Keime erstickt. Für die Generation von Gilberto Gil erwies sich die brasilianische Diktatur als ähnlich katastrophal, wie für die US-Hippies das Vietnam-Desaster.

Sowohl Gilberto Gil als auch sein späterer Weggefährte Caetano Veloso sind 1942 im Bundesstaat Bahia geboren, Gil in dessen Hauptstadt Salvador. Er lernte früh Akkordeon zu spielen, später eröffnete ihm die Gitarre die Welt der Bossa Nova, die zur gleichen Zeit auch von Caetano entdeckt wurde. Dass sich die beiden 1963 kennengelernt haben, gehört zu den Sternstunden der MPB. Nach einer Lehrzeit in Sachen Bossa gingen Gil und Caetano im Verein mit Gal Costa und Velosos Schwester Maria Bethânia daran, dessen formale Einschränkungen zu überwinden und den sogenannten Tropicalismo zu entwickeln, in dessen Manifest sie verlauten liessen: „Der Stand der Entwicklung unserer Musik und die Diskriminierung, die von den Nationalisten vorgeschlagen wurde, kann uns nur zu Lieferanten von Urmaterialien für andere Länder zurückstufen. Es war die Bossa Nova, die diese Dinge beendete, indem sie etwas schuf, das Brasilien zum ersten Mal exportieren konnte. Der Tropicalismo ist nun ein Versuch der Vereinigung aller möglichen Elemente. Er heisst auch Som Universal (universeller Klang) oder Som Livre (freier Klang), weil er die neuesten Errungenschaften auf internationaler Ebene vereint: Beatles, Jimi Hendrix und die zweite Rockgeneration. Aber er beinhaltet ebenso Choro und Música Caipira (ländliche Musik).“

Die aufregenden und farbigen musikalischen Mixturen sowie die bei den Experimenten der konkreten Poesie Brasiliens anknüpfenden, aber auch verschlüsselt diktaturkritischen Texte des Tropicalismo haben die MPB radikal verändert. Kein Axé, kein Pop-Forró, kein Brasil-Rock/Funk/Pop und keine Brasil-Breakbeats ohne die Pionierarbeit der Tropicalistas. Überdies war Gil der erste Musiker Brasiliens, der die Möglichkeiten der E-Gitarre im grossen Stil für die MPB auslotete.

Die subversiven Aktivitäten brachten Caetano Veloso in den Knast und zwangen ihn zusammen mit Gil zwei Jahre ins Londoner Exil. 1971 zurückgekehrt, begann Gilberto Gil sich intensiv mit dem afro-brasilianischen Erbe, vorab im heimatlichen Bahia, zu beschäftigen und erweiterte in einer Folge von Konzept-Alben seine aktive musikalische Forschung in diverse Bereiche der brasilianischen Musik hinein. 1976 provozierte Gil die Diktatur, die erst 1985 zuende ging, noch einmal mit der kurzlebeigen, aber legendären Formation Os Doces Barbaros (Die süssen Barbaren). An dem Projekt, das als eine experimentelle und freche Erweiterung des Tropicalismo betrachtet werden kann, nahmen neben Gil wiederum Caetano, Gal und Maria teil. Während einer Barbaros-Tournee wurde Gil wegen Marihuana-Besitzes verhaftet, der Staat wandte alle möglichen Mittel an, um das Projekt zu torpedieren.

1975 kam in „Gil e Jorge“ eine Kollaboration mit Jorge Ben zustande, die musikalisch schräg-repetitiv und manchmal in reiner Lautmalerei Folkloristisches aufarbeitete. Hier fand sich auch eine in fast dylaneskem Parlando zelebrierte, zwölfminütige Version von „Filhos de Gandhi“, in welcher Gil die Aktivitäten des gleichnamigen Afoxé preist, dem er selbst angehört. Afoxés sind in Bahia afro-brasilianische Vereinigungen, die das schwarze Erbe pflegen und die sich besonders beim Carnaval in spektakulären Auftritten hervortun. Dass der dunkelhäutige Baiano Gil sich besonders mit Afro-Traditionen befasst, drückt sich auch in seiner Vorliebe für Reggae aus, dem er die in Jamaika aufgenommene CD „Kaya N’Gan Daya“ (2002) widmete.

Gilberto Gils musikalisches Oeuvre ist ausserordentlich breit und profund. Während in Live-Sets wie „Eletracústico“ (2004) E-Beats berühmte Nummern wie „Refavela“ voranpeitschen, lässt er am anderen Ende des musikalischen Spektrums - etwa in dem seiner Frau gewidmeten, wunderschön stillen „Flora“ - mit verträumter Stimme die Seele baumeln. Gils Interessen an der Diversität und Gesamtheit brasilianischer Kultur veranlassten den Präsidenten Lula 2003 dazu, dem Musiker das Amt des Kulturministers zu übertragen. Auch in dieser Funktion ist Gilberto Gil bis heute hochaktiv.

[Erweiterter Artikel aus Züritipp 27 / 2007]