Kapverdische Musik: Viel fröhlicher als ihr Ruf

Einmal im Monat findet im Zürcher Club Marquee die kapverdische Disco „Festa de Sabura“ statt, in welcher man zu den wunderschön melodischen, hedonistischen und sich ganz auf der Höhe der Zeit befindenden Sounds des Inselstaates schwofen kann. Was ist kapverdische Musik?

Links eine geräumige Tanzfläche, im rötlichen Halbdunkel dahinter Sessel, in welchen Gäste wie schwarze Schatten am Schwadronieren sind. Die andere Hälfte des Zürcher Club Marquee nimmt eine Bar und ein paar Tischchen ein. Angenehme Atmosphäre im klassischen Disco-Stil, Lämpchengirlanden an den Wänden, blinkende Gläser und Flaschen. Es ist kurz vor Mitternacht an einem Samstag im Oktober, der Club füllt sich langsam mit einem speziellen Gemisch von Leuten. Dunkelhäutige Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmer kapverdischer Abstammung tummeln sich und tanzen neben Schweizern, Portugiesen sowie auch stets ein paar Afrikanerinnen und Afrikanern aus den afro-lusitanischen Nachbarländern von Kap Verde.

Angenehm hedonistisch
DJ Dereck legt langsame und lange, für Discos geeignete Kizomba-Sequenzen auf, beschleunigt dann das Tempo und wechselt zu Coladeiras sowie Funanás. Der Kizomba stammt ursprünglich aus Angola. Eine Mixtur aus afrikanischem Groove und europäischen Sounds, wird Kizomba sambaähnlich getanzt, allerdings paarweise. Auf Kap Verde entwickelte der Kizomba ausgesprochen romantische und langsame Formen, zu denen man eng umschlungen schwoft.

Die vife Funaná, der lebhafteste und auf der Insel Santiago entstandene kapverdische Musikstil, weckt die Paare aus der erotischen Trance. In modernen und schnellen Funanás haben elektrisch verstärkte Instrumente Einzug gehalten, die Form nähert sich sowohl westafrikanischen Grooves als auch dem dominikanischen Merengue tipico, mit dem die Funaná das Akkordeon sowie ein Schabeisen als Hauptinstrumente gemeinsam hat. Wie zum Merengue lassen sich auch zu Funanás die Hüften hin- und herschmeissen. Eine Band wie Grupo Ferro Gaita vereingt heute traditionelle und moderne Elemente in ihren Funanás.

Die Coladeira wiederum swingt angenehm in mittlerem Tempo daher, durch das Cavaquinho und eine verwandte Rhythmik rückt sie in die Nähe des brasilianischen Samba Canção, des Samba-Liedes. Beim Cavaquinho handelt es sich um ein kleines, gitarrenartiges Instrument, dessen Saiten pluckernd geschlagen werden und das in der gesamten afro-lusitanischen Musik, vorab eben auch im brasilianischen Samba und Choro, eine zentrale Stellung einnimmt. Moderne Formen der kapverdischen Musik zeigen übrigens in den Arrangements und Grooves Verwandtschaft mit dem frankokaribischen Zouk, einer weit über zwanzigjährigen Tanzschaffe, in welcher diverse Stile verschmolzen werden.

Alles unaufdringlich, unaufgeregt, sinnlich und im besten Sinne gemütlich. (Sexual)Healing in frostigen Zeiten. Die Stimmung dieser so aparten kapverdischen Sounds überträgt sich auch auf das Ambiente der Disco, deren Besucher joviales Laissez-Faire ausstrahlen.

Stolze Leute
Auf Kap Verde stehen die Türen sozusagen im Durchzug nach allen Seiten hin offen. Der  Archipel ist vulkanischen Ursprungs und besteht aus fünfzehn Inseln, von denen neun bewohnt sind. Grosse Teile der Inseln - die Rückseite des Booklets von Cesaria Evoras neuer CD zeigt ein exemplarisches Landschafts-Foto - sind halbwüstenähnlich und so gar nicht „verde“, was schon Kolumbus 1498 auf seiner dritten Amerikareise monierte. Im Inneren etlicher Inseln spriesst jedoch eine recht üppige Vegetation. 1455 von den Portugiesen als damals menschenleere Eilande entdeckt, wurden die kapverdischen Inseln ab 1461 als Trampolin nach Übersee benutzt und bald einmal machte sich auch die Nähe von Senegal bemerkbar, das östlich des Inselstaates liegt. Der Sonderstatus bescherte Kap Verde ein afro-lusitanisches Völkergemisch und eine eigenständige Kultur, die unter anderem etliche bedeutende Schriftsteller und Dichter hervorbrachte. Der Widerstand gegen die faschistische Salazar-Diktatur in Portugal wurde massgeblich von Kap Verde aus gesteuert und der Inselstaat erhielt 1975 seine Unabhängigkeit.

Die kapverdische Musik, textlich meist im kreolischen criolo vorgetragen, gehört zum eigenwilligsten, attraktivsten und im besten Sinne romantischsten Folk-Pop überhaupt. Dieser ist offen für Modernisierungen bis hin zu „technoiden“ Dancebeats, was man in den Kap Verde-Discos von Paris und Lissabon, aber eben auch einmal im Monat im Zürcher Marquee-Club nachprüfen kann. Welchen Reichtum die kapverdische Musik zu bieten hat, demonstriert heute eine junge Generation, deren Vorfahren nicht selten aus ökonomischen Gründen die kapverdischen Inseln verlassen haben. Mayra Andrade und Lura sind Beispiele für diese anderswo gelebte Heimatverbundenheit. Hier gilt, was Art Neville von den Neville Brothers über seine Roots gesagt hat: „You can take me out of New Orleans, but you can’t take New Orleans out of me.” Ein wichtiger Teil der aktuellen kapverdischen Musik wird heute von Emigrantinnen und Emigranten gemacht.

Auch Isabel Delgado Cissé, die Organisatorin der oben beschriebenen Kap-Verde-Disco „Festa de Sabura“, stammt aus einem Emigrantenumfeld. Ihre Vorfahren zogen als eine der ersten Familien von Kap Verde nach Lissabon, wo es mittlerweile eine grosse kapverdische Population gibt. Ausserdem ist die dort geborene Isabel mit diversen führenden kapverdischen Musikern verwandt. In der Schweiz hat sich Isabel vor dreiunddreissig Jahren niedergelassen und sie gehört somit zu jenen auf etwa 700 000 Personen geschätzten und in alle Welt emigrierten Kapverdianern, während die Inseln selbst lediglich von rund 440 000 Einwohner besiedelt sind.
 
  „Wir Kapverdianer sind stolz auf unsere Identität“, erklärt Isabel, „und wir empfinden uns nicht als Afrikaner. Unsere Kultur und Musik enthält sowohl afrikanische als auch lusitanische Elemente, woraus Sounds entstanden, welche am ehesten mit brasilianischen Mixturen vergleichbar sind.“ Auch nach über dreissig Jahren in der Schweiz ist Isabel, die sich selbst als „Freak“ bezeichnet, Kapverdianerin geblieben: „Ob in Boston, Paris oder Lissabon: Kapverdianer bleiben häufig unter sich, sie sprechen Criolo und heiraten auch oft innerhalb der eigenen Community. Wir Kapverdianer nehmen uns Zeit, um zu geniessen, vieles dreht sich bei uns um Liebe und Gefühle, Gemächlichkeit und schöne Musik“. Um Leben, Liebesfreud, Liebesleid, Laissez-Faire und Savoir-Vivre. Höchst angenehm.

Reiche Musik
Mit Coladeira und Funaná wurden bereits zwei typische kapverdische Musikstile angeführt. Hinzu kommt Batuque als wohl ältester Sound und natürlich die als Form auch bereits über hundertfünfzig Jahre alte Morna. Ausgesprochen Afro-perkussiv, stammt Batuque von der afrikanahen Hauptinsel Santiago, auf welcher auch die Hauptstadt Praia liegt, und der Stil wird heute von Gruppen wie Grupo de Batuque de Cidade Velha repräsentiert.
     
Die 67jährige Cesaria Evora, von ihren Freunden Cize genannt, ist und bleibt die Königin der melancholischen kapverdischen Morna. Kapverdianerin durch und durch, qualmt Cize Rauchwaren, kippt mit Vorliebe Whisky und singt zum Pluckern des Cavaquinho achselzuckend über sich selbst: „Mundo ta mudá, ma nha estoria ta f’cá“ (die Welt ändert sich, meine Geschichte bleibt stets die gleiche). Ein sympatisch ungesunder und altmodischer Status quo. Überdies wirken Cizes Mornas immer wie bittersüss-melodische Gifte gegen die Geschäftigkeit und Hektik unserer technokratischen Fitnesswelt. Instrumentiert sind Mornas oft mit einem von der Violine melancholisch umschmeichelten Cavaquinho, während das rollende Donnern des Pianos die Lieder gelegentlich in Richtung Tango schiebt. In modernen Mornas kommen auch Bläser zum Einsatz. Evoras neue CD „Nha Sentimento“ gibt sich jedoch ausgesprochen bewegt: mehr Coladeiras als Mornas, als wolle Cize dem für gewöhnlich einge
fleischt ignoranten weissen Publikum mitteilen, hey, ich kann auch anders und kapverdische Musik ist nicht gleich Morna.

 Die kapverdische Musik war und ist reich an begabten Musikern. Legenden wie Antoninho Travadinha sowie der Sänger Bana prägten die Morna, Multiinstrumentalisten wie der einflussreiche Luis Morais hinterliessen auf den Alben zahlreicher Musiker und Gruppen ihre Spuren. Zur Zeit befindet sich ein Damendreigestirn international auf dem Höhenflug: neben Cize sind das die 24jährige Mayra Andrade und die um zehn Jahre ältere Lura. Anhand dieses Powerfrauentrios und ihrer allesamt 2009 erschienen neuen CDs lässt sich der qualitativ hervorragende Zustand der aktuellen kapverdischen Musik exemplarisch aufzeigen.

Damendreigestirn
Mayra Andrade wurde auf Kuba in eine kapverdische Familie hineingeboren, während Lura 1975 in Lissabon das Licht der Welt erblickte. Die beiden ergänzen sich musikalisch sehr schön: Lura bessitzt eine soulig attackierende Stimme während Mayra Andrade verträumt und unaufgeregt, aber keinesfalls unaufregend phrasiert.

Lura bietet auf ihrem aktuellen Set einen reichhaltigen Strauss griffiger und formal vielfältiger Songs, in deren Zentrum die lyrische und von Lura wunderbar klar interpretierte Morna „Eclipse“ als CD-Titelstück steht. Das eröffnende „Libramor“ beginnt mit einem perkussiven Batuque-Intro, welches in eine Coladeira mündet. „Um Dia“ wird von jazzigen Untertönen begleitet, während das von pfupfigen Highlife-Gitarren angetriebene „Maria“ deutlich westafrikanisch eingefärbt ist. Anderes, wie „Quebród Nem Djosa“ orientiert sich an einem etwas veralteten Soul-Jazz à la Randy Crawford, klingt aber dank Luras frischer Interpretation durchaus à jour. Mit Funanás aufgewachsen, packt Lura solche stets in knackigen Versionen auf ihre CDs, hier beispielsweise das aufgekratzte „Mascadjôn“.
  
 Während Lura nach der eher traditionell gehaltenen CD „M’Bem Di Fora“ von 2006 auf „Eclipse“ die kapverdischen Sounds geradezu experimentell aufmischt, schlägt Mayra Andrade mit dem aktuellen Set „Stória Stória“ gegenüber ihrer ebenfalls 2006 erschienenen Debut-CD „Navega“ den umgekehrten Weg ein. Damals war Mayra öfters schräger zur Sache gegangen als Lura. Andrade begann „Navega“ mit „Dimokransa“, einer Coladeira. Das Intro dazu wird plakativ auf dem einsamen Cavaquinho melodisch gezupft und rhythmisch geschlagen, worauf die Sonne aufgeht und Mayras warme Stimme sozusagen hereinschwebt. Später lässt Andrade die Formen nicht selten experimentell ausfransen und bedient auch Brasil-Jazziges. Das neue Set „Stória, Stória“ wirkt geschlossener als der Erstling, der extrem persönliche Gesang gemahnt an die Diktion von Jazz-Diseusen der 30er-Jahre. In einer durchgängig intimen Stimmung wird traditionelle kapverdische Musik wiederum mit Jazz-Elementen verbunden, allerdings homogener als auf „Navega“. Zu einigen der Songs gibt es erhellende und erklärende Fussnoten, anhand derer man Essentielles über die Kultur von Kap Verde erfährt - etwa die Tatsache, dass es im Norden der Insel Santiago eine katholische Kirche gibt, die sich nicht an Rom orientiert oder aber auch den Spitznamen eines Freiheitskämpfers sowie Beschreibungen wenig bekannter Stile der kapverdischen Musik. Die grossartige und lebendige Musik eines kleinen und stolzen Volkes. 

CD-Aswahl:
Sampler: “The rough guide to the music of Cap Verde” (2001, World Music Network)
Cesaria Evora: „Rogamar“ (2006, Lusafrica), „Nha Sentimento“ (2009, Sony)
Lura: “M’Bem Di Fora” (2006, Lusafrica), “Eclipse” (2009, Lusafrica)
Mayra Andrade: “Naviga” (2006, Sony), “Stória, Stória” (2009, Sony)

Nächste “Festa de Sabura” am 28. November im Club Marquee, Weinbergstr. 68, 8006 Zürich
www.marquee.ch