Wiedererwachte Latino-Disco. Lopez’ neuer Set "Brave" ist wesentlich besser als seine anderen englisch gesungenen Vorgänger, denn "Brave" baut stilistisch auf einer starken und glamourösen Vergangenheit auf.
Üblicherweise wetzt ein Gros der Journalisten bereits die Messer, wenn nur der Name Jennifer Lopez fällt. Was hier bereits angesichts des CD-Covers passieren dürfte: "Brave" verströmt cocktailroten Metallisé-Charme, auf der Rückseite hat JLo ihre Kurven in ein hautenges Silbernes gezwängt. "Vollgeil" und "gestylt" hält da der Trashologe den Messerstechern entgegen. Was, zugegebenermassen, erklärungsbedürftig ist.
JLo ist ein exemplarischer Fall von Frau-weiss-was-sie-will. Während schmürzelige Pop-Theoretiker darüber philosophieren, ob und warum es wohl ein Disco-Revival geben könnte, kramt JLo in der Latin Hip Hop- und Latin Disco-Kiste der späten 70er und 80er-Jahre und beschert uns einen Set, der das damalige Latin-Dancefloor-Gefühl in den einschlägigen New Yorker Discos ohne gravierende nostalgische Rückblenden aufbereitet. Gut, da gibt’s in "Stay Togehter" einen plakativen Flöten-Einstieg, wie er so manchen Tanzflächenfüller der 70er-Plateausohlen-Jahre zierte, doch die knackige Produktion und die vif durch etliche Etagen hüpfende Melodik ist ganz von heute.
Rund zehn Jahre jünger als Madonna, die Latin Disco goes Latin Hip Hop noch hautnah erlebt hat, dürften die perkussiv synkopierten Electro-Beats und das Klingaling dieser Mittachziger-Sounds auch ans Ohr des puertoricanischen Teenagers JLo in der Bronx gedrungen sein. In einschlägigen Tanztempeln wie der Paradise Garage legten damals stets auch Latino-DJs wie Jellybean Benitez auf, die den brachialen schwarzen Hip Hop der zweiten Generation ins Hedonistische hinüber swingen liessen. Die urbanen Latinas und Latinos versprühten auch in der härtesten Bronx-Szenerie noch ein bisschen Rest-Glamour. Der frühe Latin Hip Hop enthielt oft gesungene Sequenzen sowie stets eine Art Melodik, was der Output von damals erfolgreichen und heute vergessenen Stars wie Noël demonstrierte. Überdies beeinflusste Latin Hip Hop via US-DJs wie Tony Carrasco, der nach Mailand übergesiedelt war, massgeblich die trashige Italo Disco jener Jahre.
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Etwa zur gleichen Zeit begann Miami Sound Machine die angesagten Latino-Trends zusammenzufassen und man katapultierte Mixturen wie "Dr. Beat" und "Conga" in die Charts. Der Einfluss von Estefan & Co ist bis in den heutige Latin-Pop hinein deutlich zu verspüren, bei Lopez in aller Direktheit. Auf dem vor einem halben Jahr erschienenen "Como Ama Una Mujer" wirkten Mitglieder des Estefan-Clans mit, JLo näherte sich hier sowohl gesanglich als auch musikalisch der sich zurückziehenden Gloria.
"Brave" enthält in irgendeiner Form alle oben beschriebenen Ingredienzien, ist allerdings zu lang geraten, acht der besten Songs statt der angebotenen zwölf hätten den Set vorteilhaft gestrafft. Die Melodik, etwa jene von "Gotta Be There" mit ihren hübschen Schleifen und Schlaufen, wirkt stets flüssiger und geschmeidiger als jene verkrampft originell sein wollenden Konstrukte von überschätzten R&B-Damen wie Rihanna. Das lyrische "Never Gonna Give Up" kommt in kammermusikalische Streicher eingebettet und sorgfältig arrangiert daher. Anderes, wie zum Beispiel "The Way It Is", tönt durch seine fette Keyboard-Melodik dann sehr nach 80er-Jahre-Glamour, der, mal von der Produktion abgesehen, irgendwie doch durch den ganzen Set glitzert, so dass man sich fragt, ob denn unser Zeitalter keine eigene Trash-Disco-Romantik besitzt. Jeder Aera die zu ihr passende Wärme und die ihr gemässe Romantik - oder eben keines von beidem, wenn sie es nicht verdient. Vielleicht leben wir zurzeit in einem Frigidaire.
Jennifer Lopez: "Brave", Sony